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VOLKER LEYENDECKER

Androgynitäten (Skulptur)

In der Welt der Malerei stellt die Perspektive, also die dritte Dimension, eine Konvention dar. Was unser Auge wahrnimmt, ist – entsprechend der Natur des Mediums – all das, was sichtbar ist. Bei einer Skulptur ist Dreidimensionalität eine Tatsache, keine Konvention. Folglich kann man sie nicht unmittelbar aus jedem möglichen Blickwinkel gleichzeitig wahrnehmen.

Tatsächlich ähnelt der Betrachter eines Bildes sehr stark dem deistischen Gott, dessen Intellekt räumliche Dimensionen selbst innewohnen. Es gibt keinen Raum außerhalb jener Kategorien der Ausdehnung, die der Verstand kennt. Doch die Wahrnehmung einer Skulptur unterscheidet sich wesentlich von dieser „domestizierten“ Form des Raumverständnisses.

Die „rohe“ Dreidimensionalität einer Skulptur kann durch unser natürliches Wahrnehmungsvermögen nicht erfasst oder kontrolliert werden. Raum wird zu etwas, das uns im Grunde entgeht. So betrachtet, ähnelt die Art und Weise, in der wir den Raum in der Welt der Bildhauerei erleben, eher einer mystischen Erfahrung, in der Gott nur via negationis verstanden oder wahrgenommen werden kann: nicht durch das, was er ist, sondern durch das, was er nicht ist.

Das Besondere an Volker Leyendeckers ikonenhaften Werken ist der Versuch, die enorme Kluft zwischen der deistischen Dreidimensionalität der Malerei und der mystischen Dreidimensionalität der Bildhauerei zu überbrücken. Auf den ersten Blick ist das, was wir an der Wand hängen sehen, die Entsprechung eines Gemäldes oder Bildes, das durch unsere visuelle Wahrnehmung augenblicklich eingefangen, erfasst und kontrolliert werden könnte. Doch gleichzeitig sind wir gezwungen, daran zu denken, dass wir es mit dem Bildnis eines Objektes zu tun haben, das sich der Künstler nicht nur ausgedacht hat, sondern das generiert (genau genommen computergeneriert) wurde. Ein Objekt, das, während wir sein Abbild betrachten, auf seine eigene, spezifische, aber sehr reale Form der Dreidimensionalität gleichzeitig im digitalen Raum existiert. Wenn wir Glück haben, ist der Künstler gerade anwesend, der dieses Objekt uns zuliebe auf dem Display seines Computers rotieren lässt. Das daraus resultierende Erlebnis kommt definitiv dem nahe, das man beim Betrachten einer Skulptur hat.

Volker Leyendeckers ikonenhafte Werke haben einen doppelten Status, eine doppelte Form der Existenz, vergleichbar dem Licht, das gleichzeitig als Energiewelle oder als eine Vielzahl kleinster Teilchen verstanden werden kann. Leyendecker versucht eine Synthese herzustellen zwischen der mentalen Projektion und der physischen Generierung eines Bild-Objektes, das einen an eine Art räumlicher Androgynität denken lässt, an eine enge Verknüpfung des triumphalen Erlebnisses einer überschaubaren, rein virtuellen, bildhaften Dreidimensionalität und des beunruhigenden Erlebnisses, daran zu scheitern, die tatsächliche Dreidimensionalität einer Skulptur wahrzunehmen.

Ein gewöhnliches ästhetisches Objekt kann von dem direkten Erlebnis, das man damit hat, nicht unterschieden werden. In gewisser, grundlegender Hinsicht ist es genau jene Perspektive oder genau jenes Erlebnis, unabhängig davon, ob wir von real zwei- oder dreidimensionalen Kunstwerken sprechen. Doch diese computergenerierten Bilder erschaffen eine Trennwand zwischen dem Erleben des künstlerischen Objektes und dem Objekt als solchem. Sie zwingen uns anzuerkennen, dass sie nicht nur für und durch uns existieren, sondern ebenso – stolz und aufsässig – getrennt von uns, außerhalb unserer Reichweite.

Das Bild-Objekt der Malerei wird als ausstrahlender Mittelpunkt verstanden, da seine Form der virtuellen Räumlichkeit der mentalen Kontrolle unterliegt und der Verstand per definitionem ein Wahrnehmungsfeld um ein Zentrum herum anordnen kann. Doch das Bild-Objekt der Bildhauerei ist in gewisser Hinsicht eine Offenbarung der Abwesenheit der absoluten Grenzen unserer Wahrnehmung. Da es letztlich nicht in all seinen möglichen Hypostasen erfasst werden kann, wird es eher zu einer ausstrahlenden Abwesenheit, vergleichbar der „schwarzen Sonne“ der mystischen Gnosis. Die räumliche Androgynie, die Volker Leyendecker erschafft, führt den Mittelpunkt der Fülle und den Mittelpunkt der Leere zusammen und wartet darauf herauszufinden, was sich aus dieser paradoxen Nähe entwickeln wird.

Das Ergebnis führt dazu, dass wir uns letzten Endes weniger sicher fühlen bei der Betrachtung flacher, scheinräumlicher Bilder. Wir beginnen unsere Fähigkeiten, ihre tatsächliche Struktur wirklich wahrzunehmen und zu verstehen, in Frage zu stellen, während wir gleichzeitig mit der vielansichtigen Räumlichkeit von Skulpturen vertrauter werden und es schaffen, die diffuse Angst zu zügeln, die wir gewöhnlich in der Gegenwart solcher verspüren. Diese Art des Yin-und-Yang-Ausgleichs des räumlichen Erlebens in Gang zu setzen, ist eine wesentliche Wirkung, welche die Arbeiten Volker Leyendeckers bei seinem Publikum hervorrufen kann.

Die speziellen Methoden, Räume zu deuten oder Räumen zu huldigen, sind jedoch nicht die einzigen offensichtlich inkompatiblen Elemente, die diese Art digitaler Kunst in Einklang zu bringen versucht. Eine andere Ebene, auf der sich dieser Prozess abspielt, ist die der unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten der Bedeutung der Sinneswahrnehmung. Wahrnehmungen sind der emphatische Ausdruck der Grenze zwischen der inneren und der äußeren Welt. Die Aufmerksamkeit, die wir ihnen in unserem kognitiven Prozeß schenken, offenbart unsere tiefe Überzeugung, dass wir ständig eine Beziehung zu einem unbestimmten und unberechenbaren „Draußen“ finden und damit zurechtkommen müssen. Was dazu führt, dass die Wahrnehmung, verstanden als grundlegende sensorische Einheit, als ein sensorisches Quantum, zum Inbegriff von Aufmerksamkeit, Klarheit und Selbsterkenntnis wird.

Es gibt jedoch noch einen anderen Weg, Wahrnehmung zu verstehen: nicht als „fokussierenden“, sondern eher als „absorbierenden“ Vorgang. So betrachtet, ist unsere Psyche derart ausgelegt, dass sie wie eine Art Staubsauger durch Wahrnehmungskanäle die notwendige Menge sensorischer Quanten ansammelt, die schließlich in den rein innerlich ablaufenden Prozessen verwendet wird, um narzisstische Bedeutungsmodelle und -muster zu erschaffen, die wir als unsere Realität projizieren. In dieser zweiten Hinsicht erscheinen Wahrnehmungen als die wesentlichen Instrumente des Träumens.

Volker Leyendeckers ikonenhafte Werke sind das Ergebnis eines Versuches, zwischen diesen beiden Philosophien der Wahrnehmung zu vermitteln.

Auf der einen Seite sehen wir uns der geduldigen Beobachtung eines Objektes gegenüber. Sie beruht auf der langsamen Anhäufung minutiöser Einzelbeobachtungen, die stark denen ähneln, die in der wissenschaftlichen Forschung unabdingbar sind. Doch diese Erfahrung empirischer Genauigkeit wird in Wirklichkeit auf das Virtuelle und Hypothetische projiziert, was bedeutet, dass wir eingeladen sind, die fassbare, sensorische, aber auch sinnliche Nähe eines mentalen Objektes zu erleben. Damit gleitet die fokussierte, klare kognitive Wahrnehmung, wie wir sie vor allem in Verbindung mit den empirischen Wissenschaften deuten, langsam in eine Welt purer Möglichkeiten hinüber.

Auf der anderen Seite führen uns die pharmazeutische Dosierung der Details und die unterschiedlichen Schichten der Beobachtungsvorgänge und -protokolle, die Leyendeckers Werk zugrunde zu liegen scheinen, wie auf einem Möbius-Kontinuum zu einer Art reichlich hypnotischer, unbegrenzt traumhafter allgemeiner Atmosphäre.

Die Androgynität der Wahrnehmung, die Volker Leyendeckers ikonenhaften Werken innewohnt, verknüpft eine Sinneswahrnehmung als eine Form der Anpassung an eine größere, sich immerfort ändernde und unberechenbare Umwelt, mit einer Sinneswahrnehmung in Form einer Selbsterfahrung und Selbstfindung.

Die Vorliebe des Künstlers für die coincidentia oppositorum, dafür, Gegensätze in Einklang zu bringen, kommt auch auf der Ebene zum Ausdruck, die ich utopische Androgynität nennen würde. Etymologisch gesehen bedeutet utopisch „ohne Ort“, was auf zwei unterschiedliche Arten verstanden werden kann. Utopismus kann natürlich auf die Vorstellung von etwas anspielen, das zu perfekt, zu rein für diese Welt ist, wie wir sie kennen.

Keinen Ort, keinen Raum zu haben, legt den Gedanken nahe, dass dieses Etwas sich in einem idealen Raum befindet, einem Raum jenseits empirischer Labilität, jenseits der fehlbaren Körperlichkeit der Welt. Doch logisch betrachtet, kann es auch bedeuten, ständig in Bewegung zu sein; wobei Bewegung nicht einfach mit Kinetik, mit einer Form physischer Unruhe zu übersetzen wäre, sondern es auch – oder eher – die Möglichkeit bedeuten würde, zwischen alternativen Interpretationen von Erlebnissen, alternativen Handlungsverläufen oder alternativen Daseinsformen zu pendeln. Diese zweite Art Utopismus ist nicht an die Vision eines potentiell befreienden Hyperraumes gebunden, sondern an die befreiende Wirkung, die der Weigerung zugeschrieben wird, an einem bestimmten Ort zu verwurzeln, sich bestimmten Raumkoordinaten zu unterwerfen. Grundsätzlich bedeutet diese Form des Utopismus das freie Oszillieren zwischen der Wirklichkeit und der Wahrscheinlichkeit unter der Voraussetzung, dass zwischen beiden keine feste Hierarchie besteht und dass Letztere in Abständen Priorität gegenüber Ersterer hat. Wenn ich von utopischer Androgynität spreche, meine ich damit die gleichzeitige und durchdringende Gegenwart zweier Formen des Utopismus in ein und derselben Form visueller Darstellung. Zwei Formen des Utopismus, die in zwei unterschiedlichen Formen verwurzelt sind, Virtualität zu verstehen und zu erfahren: eine Form, die in Beziehung zur menschlichen Psyche steht mit ihrer Fähigkeit zur verzerrenden Veränderlichkeit, zur strahlenförmigen, unbegrenzten Bindung, und die Form des digitalen Raumes, der mit seiner merkwürdigen, ungreifbaren, aber unbestreitbaren Körperlichkeit, mit seinem beunruhigenden und hieratischen „Draußen“ ein Gefühl des Unabänderlichen und Ruhigen vermittelt.

Die Werke Volker Leyendeckers repräsentieren den Versuch, zwischen diesen beiden Formen des Utopismus zu vermitteln. Seine Objekte scheinen sich selbst der durchscheinenden Homogenität eines gereinigten absoluten Raumes zu öffnen. Doch gleichzeitig scheinen sie zwischen unterschiedlichen möglichen Arten ihres Daseins zu pulsieren. Sie sind gleichzeitig Wahrnehmungsobjekte und Denk-/Gefühlsprozesse. Sie sind streng eingegrenzt zwischen ihren gereinigten Konturen und Oberflächen und gleichzeitig bereit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt in einer Wolke reiner Vibrationen zu explodieren.

All die getroffenen Beobachtungen könnten einen dazu veranlassen, die Tatsache zu überdenken, dass die große Mehrheit von Volker Leyendeckers ikonenhaften Werken Pflanzendarstellungen sind. Tatsächlich stehen wir botanischen Lebewesen gegenüber, die als solche nicht in der realen Welt existieren, sondern im Forschungslabor des Künstlers produziert werden. Dennoch ändert dies nichts an der Tatsache, dass sie unsere Phantasie als Pflanzen ansprechen, also als die Kreaturen, die die höchstentwickelten und ausgeklügelsten Exemplare der Androgynität in der gesamten Natur darstellen. Gerade durch diese Flora des Möglichen versucht Volker Leyendecker, uns seine Faszination an den unmöglichsten Verbindungen zu vermitteln.

Caius Dobrescu